Sport


Honda 250er Werksrennmaschine RC164
Roebling Road Raceway im 4. März 1994

"Six-Pack"

Als Honda 1964 beim Grand Prix von Monza die
neue 250er Sechszylinder-Werksmaschine einsetzte,
mussten sich die Konkurrenten warm anziehen. 30 Jahre
später wird genau diese RC164 wieder an den Start geschoben.

Text&Fotos: Winni Scheibe


Starpilot im Team Obsolete: Dave Roper

Roebling Road Raceway, 4. März 1994 in Savannah/Georgia. Der erste Lauf zur amerikanischen AHRMA-Vintage-Meisterschaft steht auf dem Programm. Mit viel Tam-Tam hat das Team Obsolete aus New York den Start der legendären 250er Sechszylinder-Honda RC164 angekündigt. Ein Motorrad, das 30 Jahre zuvor die Fachwelt in Erstaunen und die Konkurrenz zur Verzweiflung bringen sollte. 
Den Hubraum von 247 ccm haben die japanischen Ingenieure bei dem filigranen dohc-Rennmotor auf sechs Zylinder verteilt. Ein für die damalige Zeit außergewöhnlich hoher technischer Aufwand. Doch dieser war erforderlich. Um die maximale Höchstleistung von 60 PS zu erhalten, muss sich die rollengelagerte Kurbelwelle 18.000 (!) mal pro Minute drehen. 


Ex-Werksmechaniker Nobby Clark, damals, wie auch jetzt, für die Vorbereitung der Maschine verantwortlich, legt den ersten Gang ein. Durch Anschieben will er das Triebwerk in Gang bringen – doch der Versuch scheitert.  Auch als man die Honda mit vereinten Kräften im Fahrerlager umherschiebt, weigert sich der Motor hartnäckig. Clark gibt nicht auf. Fast ein halbes Jahr hat der begnadete Techniker für diesen Augenblick geschuftet, keiner kennt dieses Triebwerk so gut wie er. Flink werden neue Zündkerzen eingeschraubt, Helfer schieben schweißgebadet. Vergeblich! 

Jetzt hilft nur noch Fremdstarten. Das schmale Hinterrad wir auf zwei dicke Stahlrollen gedrückt, die via Pkw-Hinterradantrieb auf hohe Drehzahlen gebracht werden. Das Mittel hilft: mit unbeschreiblichem Gebrüll springt das Aggregat an. Wie vor 30 Jahren hält Clark das Motörchen routiniert mit kurzen Gasstößen am Leben. Den Drehzahlmesser behält er dabei fest im Auge. Die Nadel pendelt blitzartig zwischen der 14- und 18tausender Marke, tiefer darf sie nicht fallen, sonst ist der Motor sofort wieder aus. Der Auspufflärm ist so betäubend, dass man sich die Ohren zuhalten muss. Alle sechs Megaphon-Rohre sind von vorn bis hinten blank. Schalldämpfer waren 1964 kein Thema. Ein Spektakel, das unter die Haut geht.

Nur wenige Minuten und das Triebwerk ist auf Betriebstemperatur. Nobby Clark übergibt die Maschine an Dave Roper, Starpilot im Team Obsolete. Er soll die Maschine in der Grand-Prix-Klasse bis 250 ccm fahren. Doch Roper ist die drehmomentstarke Matchless G50 gewöhnt. Mit der nervösen Charakteristik der kleinen Drehorgel kommt er überhaupt nicht zurecht. Gleich dreimal würgt er beim Anfahren den Motor ab. Das ist für den ehemaligen GP-Mechaniker zuviel.
Verärgert über Ropers Ungeschick nimmt er ihm die Honda wieder ab und schiebt die Kostbarkeit zurück in die Box. Was gäbe jetzt Nobby Clark dafür, wenn sein früherer Freund und Fahrer Jim Redman hier wäre...



Es geht um den WM-Titel

Ganz anders das Spektakel am 13. September 1964 in Monza: Beim vorletzten Lauf zur Weltmeisterschaft herrscht in der Honda-Box eine mysteriöse Geheimniskrämerei. Neugierige Journalisten oder gar Schaulustige werden barsch zurückgeschoben. Einige Maschinen sind sogar mit Planen abgedeckt. Selbst als ein Mechaniker das 250er Werksmotorrad im Training zum Vorstart schiebt, bleibt die Decke drauf. Alle fragen sich, was soll die Schau? Deutlich sind von hinten die vier Auspuffrohre zu erkennen. Hondas Vierzylinder-Rennmaschine ist bereits seit fünf Jahren bekannt und längst keine Sensation mehr.



Honda-Werksrennmaschine RC163 von 1962

1962 und 1963 hat der Rhodesier Jim Redman bereits mit der Honda RC163 die 250er Weltmeisterschaft gewonnen. Doch kurz bevor es losgeht, montieren die Mechaniker noch schnell rechts und links je ein Megaphon-Rohr. Jetzt ist die Katze aus dem Sack! Honda hat eine 250er Rennmaschine mit Sechszylindertriebwerk gebaut! Nicht ohne Grund: Es geht um den WM-Titel. Wenn Jim Redman mit dem neuen Motorrad die beiden letzten Grand Prix gewinnt, kann er noch Weltmeister werden. Das Rennen verspricht größte Spannung. Überlegen übernimmt der Weltmeister die Führung, allerdings nicht lange. Von Runde zu Runde verliert das brandneue Triebwerk Leistung, Redman kann lediglich den dritten Platz herausfahren.
Dennoch, das Team ist zufrieden. Was heute schier unmöglich wäre, realisierte die Rennabteilung in kürzester Zeit. Nur zwei Monate benötigt der erst 24jährige Renningenieur Soichiro Irimajiri (er wurde später stellvertretender Präsident der Honda Motor Corporation) mit seinen Technikern, um die RC164 auf die Räder zu stellen.



Sensation im September 1964: Sechszylinder-Werksrennmaschine

Für Honda ist dieser Schritt ein Muss. Zwar bringt das Vierzylindertriebwerk RC163 zum Schluss zwar fast 50 PS, doch die Zweitaktrenner von Yamaha, Suzuki und MZ werden immer mehr zur Gefahr. Und das kann sich der inzwischen weltgrößte Motorradhersteller nicht bieten lassen! Was die Honda braucht, ist also mehr Leistung. Und diese lässt sich nur über eine höhere Drehzahl erreichen. Da der Vierzylinder bereits ausgereizt ist, muss ein neues Konzept her. Die Lösung liegt auf der Hand: Alle beweglichen Bauteile, von den Ventilen über Kolben, Pleuel und Kurbelwelle müssen weiter optimiert und im Gewicht reduziert werden. Der Entschluss, einen Sechszylindermotor zu bauen, wird gefasst! Die Bohrung wird auf 39,0 der Hub auf 34,5 Millimeter bestimmt, woraus sich 247 ccm ergeben. Den Antrieb der beiden obenliegenden Nockenwellen organisieren, wie bereits im Vierzylinder-Triebwerk, Stirnräder. Die jeweils vier Ventile pro Zylinder werden über Tassenstößel betätigt. Für die Gemischaufbereitung sorgen sechs spezielle Flachschieber-Rennvergaser von Keihin aus Magnesium mit 17 Millimeter Querschnitt. Sie sind mit einem "Fünf-Düsen-System" ausgestattet und kommen ohne Düsennadel aus.


Für die Zündung: Drei Unterbrecherkontakte


Einmaliger Sound: 6-in-6-Auspuffanlage


Hinterrad-Stopper


Gemischaufbereitung: Sechs Keihin-Vergaser


Kraftträger: Mehrscheiben-Trockenkupplung


Eine Magnetzündanlage mit drei Unterbrecherkontakten und drei Doppel-Zündspulen liefern den Zündfunken an die winzigen Kerzen mit nur acht Millimeter Schraubgewinde. Der Motor ist eine Wucht, er ist kaum breiter als der Vierzylinder und bringt auf Anhieb 60 PS. Die Kurbelwelle erreicht hierbei astronomische 18.000 Umdrehungen pro Minute! Über eine Mehrscheiben-Trockenkupplung gelangt die Leistung zum Siebengang-Renngetriebe und dann via Kette zum Hinterrad.



Rob Iannucci und Nobby Clark bei der Restauration der legendären RC164

Das Fahrwerk ist ein alter Bekannter: Wenige Änderungen sind erforderlich, und der Sechszylindermotor lässt sich in den bekannten RC163 Brückenrohrrahmen hängen – das Triebwerk dient auch hier als mittragendes Element. Die Führung des schmalen 2.75x18 Vorderrades übernimmt eine Telegabel mit 35 Millimeter Standrohren. Am Heck werkeln zwei Federbeine, das Hinterrad hat die Abmessung 3.25x18, und die Schwinge ist aus Vierkantstahlrohr gefertigt. Vorn wird über eine 220-Millimeter Doppelduplex-Trommelbremse und hinten über eine Duplex-Trommelbremse mit 200 Millimeter Durchmesser verzögert. Fahrfertig bringt die 60-PS-Rennmaschine nur 120 kg auf die Waage. Leicht und stark genug, um gut 250 Stundenkilometer zu erreichen.



34 Jahre später sitzt Jim Redman 1998 wieder auf der RC164

Der letzte Grand Prix 1964 findet in Suzuka/Japan statt. Hier ist die neue RC164 unschlagbar. Honda-Werksfahrer Jim Redman gewinnt zwar auf der hauseigenen Strecke das Rennen, doch der 250er WM-Titel geht an Phil Read und erstmals in dieser Klasse an eine Zweitakt-Yamaha. 
In der Saison 1965 wird das Duell zwischen Phil Read auf der Zweizylinderzweitakt-Yamaha RD56 und Jim Redman mit der weiterentwickelten Sechszylinderviertakt-Honda, sie trägt jetzt das Kürzel RC165, beinhart. Phil Read gewinnt sieben und Jim Redman drei GP-Läufe, Weltmeister wird erneut Phil Read – sehr zum Leidwesen Hondas. Für 1966 holt das japanische Werk Mike Hailwood ins Team zurück. Der bereits fünffache Weltmeister (1961 250/Honda, 1962 bis 1965 500/MV Augusta) bekommt für die neue 250er Klasse die modifizierte Sechszylinder-Werksrennmaschine mit der neuen Bezeichnung RC166 und für die 350er Klasse eine aufgebohrte RC166 mit 297 ccm und 65 PS. Redman soll sich fortan mit der RC181 auf die 500er-WM konzentrieren. Für die Japaner lohnt der Deal: 1966 und 1967 wird "Mike the bike" in der 250er und 350er-Klasse Weltmeister! Ende der Saison 1967 zieht sich Honda allerdings für über zehn Jahre aus dem Motorrad-GP-Sport zurück. 



In den Sechzigern ist das Honda-Team bei den europäischen WM-Läufen in Amsterdam stationiert. Nach dem Sieg in Suzuka kommt Redmans RC164 via Luftfracht nach Europa zurück und wird im Herbst 1964 auf der IFMA in Köln ausgestellt. Die Sechszylinder ist die Sensation. Jedoch nur wenige Motorradfahrer ahnen, was in den nächsten Jahren aus Japan auf sie zukommen wird. Nach den Kölner Messetagen wird die RC164 zum deutschen Honda-Importeur nach Hamburg gebracht und bei verschiedenen weiteren Motorrad-Ausstellungen gezeigt. 1968 erkundigt sich Gerhard Heukerott nach der bereits legendären RC164. Der hessische Rennfahrer hat in diesem Jahr mit einer Honda CR77 die Deutsche Meisterschaft bis 350 ccm gewonnen und machte sich somit berechtigte Hoffnungen, für den weiteren Verlauf seiner Karriere die Sechszylinder zu bekommen. Honda Deutschland ist inzwischen nach Offenbach umgezogen und Yamada-san, der Präsident in der japanischen Werksniederlassung, bekundet Interesse. Er beauftragt den Techniker Peter Hartenstein, die Maschine umgehend zum Laufen zu bringen. "Für mich war dieser Auftrag eine ganz große Herausforderung", erinnert sich Hartenstein. "Es gab weder technische Unterlagen noch Einstelldaten. Ersatzteile hatten wir auch nicht auf Lager. Beim Zerlegen durfte nichts beschädigt werden, und keine Dichtung durfte zerreißen. Vor und bei jedem Arbeitsschritt habe ich Notizen gemacht. Um so größer war für mich die Enttäuschung, als sich herausstellt, dass ein Nockenwellenlagerbock im Zylinderkopf gebrochen war."  Per Fernschreiber werden alle erforderlichen Ersatzteile in der japanischen Rennabteilung bestellt. Hier ist man von dem Vorhaben jedoch wenig begeistert. Das Stimmungsbarometer für den Motorradrennsport ist in dieser Zeit bei Honda nämlich auf null gesunken. Alle Aktivitäten sind aufs Automobilgeschäft und dem Engagement in der Formel 1 gerichtet. Und so wundert es nicht, dass im Antwortschreiben die Order kurz und bündig lautete: entweder verkaufen oder sofort verschrotten. 
Für Heukerott keine Frage. Nach gut informierten Kreisen legt er 14.000 Mark auf den Tisch, und die Honda-Werksrennmaschine kommt in Privatbesitz.  

Beim WM-Lauf 1969 in Hockenheim soll die RC164 nach fünfjähriger Pause wieder laufen. Doch alle Mühe lohnt sich nicht: Die Kurbelwelle bricht, Ersatzteile sind nicht vorhanden, und an eine Reparatur ist schon gar nicht zu denken. Für die nächsten 15 Jahre bleibt die defekte Rennmaschine, so wie sie ist, stehen.  


Back to the Racetrack


Robert "Rob" Iannucci

1984 tritt Robert Iannucci, wohlhabender Rechtsanwalt aus New York, Oldtimernarr und Besitzer des Teams Obsolete, auf den Plan. Er kauft dem Ex-Rennfahrer die Maschine für eine sechsstellige Summe ab und lässt sie wiederum fast zehn Jahre unangerührt stehen. Im Herbst 1993 wird die Geschichte wieder spannend. Innaucci setzt sich in den Kopf, die RC164 zum Laufen zu bringen. Sein Fahrer Dave Roper soll mit der ehemaligen Werksrennmaschine bei den Vintage-Rennen in den USA und im Ausland an den Start gehen. Für dieses Vorhaben braucht er allerdings den richtigen Mechaniker. Und da gibt es nur einen: Nobby Clark, Jim Redmans ehemaliger Werksschrauber! Clark war einverstanden und kam nach New York.

Was ihn hier erwartete, übertraf seine kühnsten Erwartungen. "Sofort habe ich sie als Redmans GP-Renner identifiziert. Nur bei der RC164 sind die Kühlrippen nachträglich an die Ölwanne geschweißt, bei allen Sechszylindermaschinen nach 1964 sind sie mit der Ölwanne vergossen", weiß Clark.




 




Der Fahrzeugzustand ist erbärmlich, Es muss eine neue Kurbelwelle her, die Kolben sind verschlissen, der Zylinderkopf muss überholt und ein Haarriss geschweißt werden, zahlreiche Kleinteile fehlen. Trotz der noch immer guten Kontakte zur Honda-Rennabteilung will man Clark nicht helfen. Von einer Sechszylinder-Werksmaschine, die sich in Privatbesitz befindet, sei nichts bekannt, heißt es aus Japan. Und für eine Maschine, die es nicht gebe, könne man auch keine Ersatzteile liefern. Trotzdem, die Aufgabe reizt ihn. Mitte Oktober 1993 macht sich der 58jährige Viertaktspezialist an die Arbeit.

Die Herstellung der neuen Kurbelwelle, für 14.000 Dollar veranschlagt, wird in Italien in Auftrag gegeben, die Kolben werden beim schwäbischen Spezialisten Wahl bestellt. Dichtungen, Bowdenzüge und elektrische Leitungen fertigt Clark selbst. Im Prinzip muss er das Fahrzeug von Grund auf restaurieren. Es werden Halterungen und Hebel nachgebaut, die Beule im Tank wird ausgebessert und alle Lackteile mit neuer Farbe versehen. Ein Fulltime-Job, rund um die Uhr, die Zeit drängt. Spätestens am 3. März 1994 muss die Honda wieder einsatzfähig sein.




Und sie ist es. Pünktlich zum Training des ersten Vintage-Rennens in der Saison in Savannah läuft der Motor. Für Nobby Clark einer der größten Augenblicke in seiner Tätigkeit als Rennmechaniker. Mit keiner anderen Maschine verbinden ihn so viele Erinnerungen. Seine Aufgabe hat er erledigt. Jetzt muss die RC164 nur noch von jemandem gefahren werden. Dave Roper schafft es nicht. Ob sich wohl ein anderer finden lässt...?




Nobby Clark

Portrait: Nobby Clark

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