Praxis


ABS
Aktives - Bremsen - (im) Schreckmoment

Ist perfektes Bremsen Routine,
Kunst oder doch nur eine Glücksache?

Motorrad fahren ist eine äußerst dynamische Angelegenheit. Beschleunigen, Schräglage, Cruisen, Topspeed und Bremsen. Dazwischen liegt jede Menge Fahrspaß. Alle Bewegungsabläufe sind längst wie ein Computerprogramm abgespeichert. Denkt man jedenfalls. In einer Schrecksituation versagt jedoch
das sicher geglaubte Können, bei einer unausweichlichen Notbremsung kann
der Akteur mächtig ins Schwitzen kommen. Sollte scharfes Bremsen deswegen
hin und wieder mal geübt werden? Oder kann ein ABS helfen?
Wir bringen Licht in das emotionale Thema.

Text:  Winni Scheibe
Fachberatung: Harald Nordmeier
Fotos: Scheibe, BMW, Kawasaki, Honda, IFZ, Archiv

Video von Wolfgang Fromm:
ABS-Bremsung auf Asphalt, Schotter, Gras und Reibwertsprung
Honda Fireblade und Honda CBR250R

Video von Wolfgang Fromm:
ABS-Bremsung auf Asphalt, Schotter und "Fluchts ins Gelände" mit Vollbremsung im Gras
Kawasaki ER6f und Kawasaki GTR1400



...auch den Meister kann es mal erwischen...

Zur Sensation, wenn auch zu einer fragwürdigen, wurde Mitte 2005 das "BMW-Integral-ABS". Keiner, weder Erfinder, Hersteller noch Marketingmanager, hätten sich jemals träumen lassen, dass diese technische Innovation einmal negativ in die Schlagzeilen geraten könnte. Von bekannten Fachmagazinen über Nachrichtensender bis hin zum Spiegel verfassten Redakteure Artikel über "Sinn und Unsinn" dieser Hilfsfunktion. Vom Bremsversagen, Stürzen bis  hin zu  einem Toten war die Rede.



BMW K 1200 R: ABS-Bremsübung
(Foto: BMW)

Was war aber tatsächlich passiert? Ein BMW-Kunde, ohne dass er einen Unfall erlitten hatte, war mit der ABS-Technik an seiner Maschine unzufrieden und hatte das Werk deswegen angezeigt. Desweiteren waren nach Fehlfunktionen der Integral-ABS-Anlage zwei Teilnehmer während eines ADAC-Sicherheitstrainings gestürzt: sie kamen mit dem Schrecken davon. Diese Geschichten gelangten an die Öffentlichkeit, der vermeintliche Skandal war perfekt.
Was nicht, oder nur am Rande erwähnt wurde, dass seit Anfang des Jahres 2001 BMW über 260.000 Maschinen mit dem neuen Integral-ABS in den Handel brachte. Lediglich zwei Dutzend Systemstörungen wurden bis Mitte 2005 dem Münchner Hersteller gemeldet, zu Stürzen war es hierbei allerdings nicht gekommen. Der in den Berichten erwähnte tödliche Unfall hatte mit einem "ABS Versagen" nichts zu tun. Die vielfache Darstellung, es handele sich um ein "Bremsversagen" oder gar "Bremsausfall" stimmt auch nicht.
Richtig dagegen ist, sollte der Bremsassistent tatsächlich einmal ausfallen, schaltet das Computer gesteuerte Sicherheitssystem umgehend auf die Standardwirkungsweise, BMW nennt es "Restbremsfunktion", um. Der Fahrer wird durch ein Signallicht gewarnt, die Verzögerungseinrichtung wirkt nun wie bei jedem anderen Motorrad, jedoch nicht mehr mit dem Bremskraftverstärker und dem ABS. In diesem Betriebszustand wird vom Fahrer erheblich mehr Hand- und Fußkraft verlangt und beim Überbremsen können die Räder wieder blockieren.


Das ABS ist ein unermesslicher Sicherheitsgewinn!


Triumph Sprint ST seit 2005 auch mit ABS


Mit Verlaub, nur wenige haben verstanden um was es hier eigentlich geht. Die BMW-Bremsanlage als solches, wenn auch mit höherem Krafteinsatz, funktioniert weiterhin. Ein Antiblockiersystem hat eine ganz andere Aufgabe. Das ABS bremst nämlich nicht, es verhindert das Blockieren der Räder und das darf fast schon als ein technisches Wunderwerk bezeichnet werden. Verantwortlich hierfür ist ein ausgeklügeltes elektro-hydraulisch gesteuertes System. Falls das Rad blockiert, oder zu blockieren droht, wird der Bremsdruck bis zu 15 mal pro Sekunde (!) blitzschnell reduziert und gleich wieder aufgebaut, man spricht vom ABS-Regelbereich. Ganz gleich über welchen Untergrund das Rad rollt, die Anlage ermöglicht bei einer Vollbremsung immer die maximale Verzögerung und somit den kürzesten Bremsweg! Das kann kein Motorradfahrer normalerweise und in einer Paniksituation erst recht nicht leisten.


Gebremst wird vom Fahrer!


Brems-Training

Für den eigentlichen Bremsvorgang ist und bleibt weiterhin der Fahrer zuständig. Er bestimmt, ob schwach oder stark, unabhängig ob ohne oder mit ABS, tatsächlich gebremst wird. Und dazu gehört etwas mehr, als nur blindlings in die Eisen zu steigen.


Wer über perfektes Bremsen redet, 
sollte wissen, was alles dazu gehört

Die Technik muss "Top in Schuss" sein!



"Grip"
Reifen, die in Kurven ausgezeichnet haften (Grip haben),
sind auch beim Bremsen erste Wahl!


"Bremszeugs"
Top-Reifen, erstklassige Bremsscheiben,  Sättel und Stahlflexleitungen


"Bremssaft"
Mit der Zeit altert Bremsflüssigkeit. Alle ein bis zwei Jahre sollte sie erneuert werden


(Link: Bremssättel überholen)


(Link: Bremsflüssigkeit wechseln)


Wie alles im Leben, hat auch gute Bremsleistung ihren Preis. Und dazu gehören griffige Reifen, einwandfrei funktionierende Bremsbeläge, intakte Bremsscheiben oder Bremstrommeln, Hydraulikleitungen, die nicht porös sind, gut geschmierte Bowdenzüge und Gestänge und vor allem frische Bremsflüssigkeit. Je nach Fahrzeugherstellerangabe sollte der lebenswichtige Saft nicht länger als ein oder zwei Jahre im Hydrauliksystem verweilen.


Cool Running

Richtig sitzen, und die Hebelstellungen müssen stimmen!


"Stilsache"
Nur wer unverkrampft auf dem Bike sitzt, fühlt sich auch wohl!


Motorrad fahren ist reine Gefühlssache. Nur wer locker im Sattel sitzt, fühlt sich auch wohl. Zwickende, kneifende oder flatternde Schutzbekleidung kann nerven oder gar die Aufmerksamkeit mindern. Und dann kommt es noch auf eine entspannte Sitzposition, die Ergonomie an. Die Lenkstange sollte locker in den Händen liegen, die Fußballen stehen gefühlvoll auf den Rasten, Kupplungs-, Hand- und Fußbremshebel, aber auch der Schalthebel, sollten sich einwandfrei bedienen lassen. Umständlich erreichbare Hebel kann man meist einstellen, wer es selbst nicht erledigen kann, besucht die Fachwerkstatt.

Hebeleinstellung und Bedienbarkeit müssen stimmen!


Zum richtigen Bremsen gehört zunächst:
"Blickführung und Fahrbahn lesen"



"Blickführung"
Dahin gucken, wohin man fahren will!


Zum A&O beim Motorrad fahren gehört die Blickführung und das Fahrbahn lesen. Blickführung heißt auch: "Fahrtrichtung gleich Blickrichtung"! Oder anders ausgedrückt, man darf nie ständig direkt vors Vorderrad schauen, sondern immer weit voraus gucken, dahin, wohin man eigentlich hinfahren will, auch um die Kurven. Mit der Zeit lernt man so vorausschauend zu fahren, alte Füchse nennen es einen "7. Sinn" bekommen. Nur so lässt sich rechtzeitig erkennen, wenn etwas auf der Straße liegt oder man sonst auf etwas Außergewöhnliches zubraust.



"Blickführung in Kurven"
Großmeister Mick Doohan wusste immer, wohin es ging...


Fahrbahn lesen


Sehen und erkennen, was auf der Straße liegt!


Sehen und reagieren gehört genauso zur Pflichtübung. Sehen heißt Fahrbahn lesen und reagieren heißt, Wahrgenommenes sofort in angepasste Fahr- oder Bremsweise umsetzen. Denn die Straße ist längst nicht immer 100-prozentig griffig. Sie kann nass, glatt, schmierig, löchrig, mit Rollsplitt übersät, kopfsteinpflastrig, frisch geteert, mit Bitumen geflickt und wer weiß was sonst noch sein.
Auf griffiger Fahrbahn lässt sich bekanntlich ganz anders als auf nasser oder gar schmieriger Asphaltdecke bremsen. Der Bremsweg verlängert sich unter diesen Umständen erheblich. Diese Wahrnehmung wird durch die erlangte Fahrpraxis automatisch in Hand- und Fußkraft umgesetzt und entsprechend gefühlvoll oder kräftig werden die Bremsen betätigt.


Verzögern kontra Notbremsung
oder
Bremsen, bis die Scheibe glüht!


Bewusstes Verzögern vor Kurven
(Foto: Archiv)


Bremsen ist aber nicht gleich bremsen. Es gibt zwei Kategorien. Das gewollte, bewusste Bremsen oder auch das situationsbedingte Verzögern. Zum Beispiel vor Kurven, bergab oder zum Anhalten vor einer roten Ampel, an der Tankstelle oder einer Eisdiele. Es kann aber auch bei Renntempo das oft gerühmte "Bremsen auf der letzten Rille" sein. Auch hier zieht der Akteur bewusst und ganz gewollt am Hebel.



"Bremsen auf der letzten Rille"
Champion Valentino Rossi
(Foto: Honda)


Schreckbremsung


In diese Situation kann ausnahmslos  jeder kommen.
Nur eine gekonnte Vollbremsung kann vor Schlimmerem bewahren! 
(Foto: Archiv)


Das Zweite ist die Not- oder Schreckbremsung. Gemeint sind Verkehrssituationen, in die man absolut unvorbereitet kommt. Zum Überlegen: "wie bremse ich denn jetzt am Besten", bleibt nicht ein Wimpernschlag Zeit. Es heißt nur: "voll in die Eisen steigen!". Bei dieser Vollbremsung zählt jeder Meter, im Extremfall geht es um Leben oder Tod. Und deswegen ist das Thema auch so wichtig.


Erster Lehrsatz bei Motorrädern ohne ABS: 
"Blockiert das Rad, Bremse lösen!"


Blockiert das Hinterrad, bricht meist das Heck aus!


Bei einer Gefahren- oder Schreckbremsung ist es unmöglich, gleichzeitig Vorder- und Hinterradbremse so zu dosieren, dass beide Räder optimal bremsen, also nicht blockieren. Das Gegenteil ist der Fall. In Panik tritt man hinten voll drauf, das Hinterrad blockiert und als Folge kann das Fahrzeugheck ausbrechen. Zum Gegenlenken muss man geistesgegenwärtig die Bremsen lösen, der lebenswichtige Bremsweg wird so verschenkt.



Blockiert das Vorderrad: "Bremse lösen!"

Bedeutend kritischer ist ein überbremstes Vorderrad. Blitzartig muss die Bremse gelöst werden, ein blockierendes Vorderrad führt nämlich (fast) immer zum Sturz!


Zweiter Lehrsatz bei ABS-Motorrädern:
"Bei Vollbremsung Bremse halten!"


Ab 2005 gibt es die Triumph Sprint ST mit Zweikreis-ABS


D
er Mensch ist bekanntlich ein "Gewohnheitstier". Und so geht es auch den Motorradfahrern. Der Reflex, bei blockierendem Vorderrad sofort die Handbremse zu lösen, hat sich tief verinnerlicht. Ein ABS-Bike verlangt nun aber genau das Gegenteil. Bei einer Notbremsung kann oder muss sogar die Bremsanlage sofort voll und kräftig betätigt werden und, das ist das Entscheidende, bis zum Stillstand festgehalten werden. 
Klingt einfach, ist aber für den geübten Motorradfahrer eine gewaltige Umstellung. Und die beginnt im Kopf und muss durch Bremsversuche im ABS-Regelbereich trainiert werden. Solange, bis dieser neue Programmablauf "Bremse halten" in Fleisch und Blut übergegangen ist.


Wie lässt sich der kritische Biker überzeugen?
Ganz einfach: "durch Ausprobieren!"


Probieren geht über Studieren!


Motorräder sind im Grunde eine "Fehlkonstruktion". Wenn man sie im Stand nicht festhält, kippen sie einfach um, beim forschen Losfahren steigt das Vorderrad gen Himmel und beim mutigen Vorderrad-bremsen verliert das Hinterrad den Bodenkontakt, es hebt ab.





Erfahrenen Bikern passiert so etwas natürlich niemals. Sie fahren vorausschauend, cruisen über die Landstraße und wo sie anhalten wollen, wissen sie schon Meilen vorher. Sie brauchen kein ABS und wenn man sie fragt, wann sie das letzte Mal zu einer Notbremsung gezwungen wurden, lautet meist die Antwort: "noch nie". Ebenso erkenntnisreich ist die Frage an Motorradfreunde, die bereits ein ABS-Bike besitzen, ob sie jemals bis in den Regelbereich gebremst haben, als Antwort kommt: "warum sollte ich?"


Übung macht den Meister!



In eine unvorhersehbare Gefahrensituation kann allerdings jeder kommen. Keiner, vom Anfänger bis hin zum Profi, kann sich davon frei sprechen. Um jedoch auf solche  tückischen Überraschungen vorbereitet zu sein, sollte man die Bremsleistung seines Bikes mal ausprobieren. Nennen wir es einfach Bremstraining, das klingt gut und schindet Eindruck.


Die Trockenübung


Abgesehen von Motorrädern mit Kombi-Bremse sowie mit ABS, besteht die gebräuchliche Verzögerungstechnik lediglich aus Vorder- und Hinterradbremse. Vorne wird über den rechten Handhebel und hinten über einen Fußhebel gebremst. In der Theorie ist bremsen ganz einfach, sagt man. Immer wieder lassen sich nämlich die Ratschläge hören: "Vorne dosieren, hinten blockieren" oder "ein blockierendes Hinterrad ist beherrschbar" oder die Bremskraft verteilt sich "zu 80% auf das Vorderrad und zu 20% auf das Hinterrad".


Unter Stressbedingungen helfen einem
diese Tipps allerdings herzlich wenig!


Panikbremsung
(Foto: IFZ)


B
ei einer unausweichlichen Notbremsung steigt jeder voll in die Eisen oder wenigstens so gut er kann. Von einer dosierten Vorderradbremsung kann so oder so also keine Rede sein. 
Bei der Hinterradbremse ist es dagegen einfacher,  man tritt voll drauf und das Rad steht. Und hier liegt das Risiko: Das Fahrzeugheck kann ausbrechen oder beginnt sogar zu schleudern. Das muss nicht, kann aber passieren, denn keine Straße ist 100% flach. Die Fahrbahn ist gewölbt, damit das Regenwasser abfließen kann, dazu kommen gemeingefährliche Spurrillen. Das Bike kann in einen kritischen  Fahrzustand geraten und plötzlich ist nicht mehr die Kunst des Bremsen, sondern des Gegenlenkens gefragt. Im Extremfall kann man von Glück reden, wenn man auf der Maschine sitzen bleibt. Nur durch Lösen der Bremse lässt sich ein sicherer Geradeauslauf wieder herstellen. Lebenswichtiger Bremsweg geht in dieser Stresslage  verloren. Und: wer in solch einer Paniksituation von einer Bremskraftverteilung von 80% für vorne und 20% für hinten redet, soll es erst einmal vormachen.


Die graue Theorie


Je stärker vorne gebremst wird, um so tiefer taucht die Telegabel ein


J
eder, der bewusst bremst, kennt das "Gabeleintauchen". Ursache für dieses Phänomen ist die dynamische Achslastverteilung. Je stärker mit dem Vorderrad gebremst wird, um so mehr Gewicht verlagert sich nach vorne, im Extremfall hebt das Hinterrad von der Fahrbahn ab. Dann beträgt die Bremsleistung vorne 100% und hinten 0%. Bei den TV-Übertragungen der MotoGP-Rennen lassen sich solche Bremsmanöver von Rossi & Co immer wieder bewundern.
Motorräder, vom Nakedbike über Sporttourer, Sportler und Supersportler und Enduros, die heutzutage auf der Straße gefahren werden, können das aber auch. Es liegt nur am Fahrer, solche "Stehaufmännchen" oder "Stoppies" auf den Asphalt zu zaubern.
Ausgenommen hiervon sind Chopper mit ellenlangen Gabeln, sowie Kraftmeier vom Schlag einer Boss Hoss und ähnliche Vehikel. 



Custom-Bike mit langem Radstand und tiefem Schwerpunkt.
Trotz Doppelscheibenbremse am Vorderrad wird dieser Biker bei einer Vollbremsung wohl kaum einen professionellen "Stoppie" auf den Asphalt zaubern können


Bremstraining:
Mit Bikes ohne ABS und Kombi-Funktion



Straßen sind fast immer gewölbt oder haben tückische Spurrillen.
Blockiert das Hinterrad, kann das Fahrzeugheck ausbrechen!


Hand aufs Herz, wer hat schon mal für sich ganz allein das Bremsen trainiert? Wer weiß wirklich, wie die Maschine reagiert, wenn das Hinterrad ausbricht oder kennt das Gefühl, wenn beim Überbremsen plötzlich das Vorderrad blockiert?
Die einfachste Selbsterfahrung ist die Übung mit dem blockierenden Hinterrad. Auf einer Nebenstraße, mit der Gewissheit, dass von hinten gerade keiner kommt, wird bei etwa 50-60 km/h die Kupplung gezogen und hinten für einen Moment voll draufgetreten. Das Rad blockiert und das Heck bricht mehr oder weniger aus. Obwohl man auf diese Situation vorbereitet ist, wird man sich mächtig erschrecken. Erschrecken deswegen, weil man kaum damit gerechnet hat, wie schlagartig das Heck tatsächlich ausbricht. Diesen Versuch sollte man einige Male auf verschiedenen Straßenabschnitten und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit durchführen. Stellt sich das Heck quer, verhindert nur das sofortige Bremse-lösen Schlimmeres!



Vollbremsung nur mit dem Hinterrad.
Auf einem flachen Übungsplatz bricht das Heck kaum aus


Wer diesen Bremsversuch jedoch auf einem flachen Verkehrsübungsplatz oder einem relativ ebenen Großraumparkplatz ausprobiert, wird dieses "Heck-Ausbrechen" bei weitem nicht so gravierend oder auch überhaupt nicht erleben. Das Bike kann hier tatsächlich in der Spur bleiben und man gewinnt den Eindruck: "ein blockierendes Hinterrad ist beherrschbar". Diese Fehleinschätzung kann jedoch zu fatalen Folgen führen. Bei einer Notbremsung verlässt man sich auf diese Erfahrung und kommt, wenn das Heck ausbricht, erst recht in eine Paniksituation.


Trainiert wird auf einem leeren Parkplatz



Zu zweit macht das Training mehr Spaß!


F
ür das gezielte Bremstraining sucht man sich am besten einen leeren Parkplatz und verabredet sich mit einem Motorradspezi. Falls etwas passiert, ist jemand da, der helfen kann. Zu zweit macht es aber auch viel mehr Spaß und man kann sich gegenseitig beobachten und Tipps geben. Zum Beispiel bei der Regel "Blickführung". Als Hilfsmittel sollte man einige leere Dosen oder Ähnliches und ein Stück Kreide mitnehmen. Wer seinen Bremsweg genau wissen will, steckt auch einen Zollstock ein.

Wichtig für das Erfolgserlebnis ist ein strukturiertes Training. Zwei Dosen bilden ein "Tor", bei allen Übungen wird ab hier gebremst. Wo das Bike nach dem jeweiligen Bremsmanöver zum Stehen kommt, wird ebenfalls mit einer Dose oder mit einem Kreidestrich markiert. Mit dem Zollstock lässt sich der Bremsweg messen. Nach mehreren Trainingsrunden sollte er sich nämlich verkürzen.
Zwar hat man die erlebnisreiche Erfahrung mit dem blockierenden Hinterrad bereits gemacht, doch zum "Warmbremsen" wird zunächst aus 30 und dann aus 50 km/h eine Vollbremsung nur mit dem hinteren Stopper auf den Asphalt gebrannt und zwar so lange, bis das Bike tatsächlich steht. Bei 50 km/h beträgt der Bremsweg, das ist der Weg von Beginn der Bremsung bis zum tatsächlichen Stillstand, rund 25 Meter.
Alle weiteren Übungen werden ab jetzt nur noch mit der Vorderradbremse absolviert. Zuerst nur aus 30 und dann aus 50 km/h. Jeder, der ehrlich zu sich ist, wird spätestens jetzt zugeben, welch enormes Fingerspitzengefühl selbst bei dieser geringen Geschwindigkeit für eine optimale Bremsung erforderlich ist. Beherrscht man diese Technik, liegt bei einer optimalen Vollbremsung aus 50 km/h der Bremsweg bei etwa 10 bis 12 Metern!
Beim nächsten Versuch wird aus Tempo 70 km/h trainiert. Vorher stellt man seinen Trainingspartner aber an den Punkt, bei dem man aus 50 km/h zum Stehen gekommen ist. Der Beobachter hält sich die flachen Hände für einen "Scheuklappenblick" neben die Augen, um so einen Eindruck der Geschwindigkeit zu bekommen. Der Bremsakteur rauscht mit rund 50 Sachen an einem vorbei. Oder anders ausgedrückt: Bei einer Vollbremsung aus 50 km/h kommt man unter guten Bedingungen nach 12 Metern zum stehen. Beträgt das Tempo aber 70 km/h, hat der Biker beim "12-Meter-Punkt" immer noch 50 Stundenkilometer drauf.  Noch eine Frage?



"Test mit Scheuklappenblick"
Notbremsung aus 70 km/h: Hier beträgt das Tempo noch 50 km/h!


Von der dynamischen Achslastverteilung war bereits die Rede. Je stärker vorne gebremst wird, um so mehr Gewicht verlagert sich auf das Vorderrad. Abgesehen von den modernen BMW-Fahrwerken mit Telelever- oder Duolever-Vorderradführung, tauchen gebräuchliche Telegabeln beim starken Bremsen durch diese Gewichtsverlagerung ein. Es können gewaltige Bremskräfte über das Vorderrad auf den Asphalt übertragen werden. Moderne Bremstechnologie, Top-Fahrwerke und exzellente Reifen lassen enorme Verzögerungswerte, fast wie im Rennsport,  zu!
Diese Physik hat allerdings ihre Tücken. Wird die Vorderradbremse nämlich schlagartig mit voller Kraft betätigt, blockiert das Rad sofort. Die dynamische Achslastverteilung hatte durch die Massenträgheit noch nicht die Zeit, das Gewicht auf das Vorderrad zu bringen. Oder: Das Vorderrad wurde noch nicht fest genug auf den Asphalt gedrückt.


Fazit: Vollbremsung ohne ABS



Sicherheitstraining:
Die optimale Vollbremsung wird geübt


Die hohe Kunst einer effektiven Vollbremsung auf trockener Straße ist es, das Vorderrad mit einer gefühlvollen, kraftansteigenden Bremsaktion zum "Wimmern" zu bekommen. Die Bremsleistung soll bis kurz vor, dabei aber nie die Blockiergrenze überschreiten. Das Hinterrad wird dabei voll entlastet, es kann sogar etwas von der Fahrbahn abheben. Stoppieexperten schaffen dies sogar mit Sozius!
Blockiert das Vorderrad trotzdem, muss die Handbremse blitzartig gelöst werden und in Sekundenschnelle der maximale Bremsdruck wieder aufgebaut werden. Man könnte auch sagen "die rechte Hand übernimmt eine ABS-Funktion".


Bremstraining: Mit ABS-Bikes



Wer von einem ABS-losen auf ein ABS-Bike umsteigt,
sollte unbedingt Vollbremsungen im ABS-Regelbereich trainieren!
(Foto: BMW)


Motorradfahrer mit einem ABS-Bike können sich diese Schinderei ersparen. In einer Extremsituation wird es das ABS schon richten. Denkt man jedenfalls. Und genau hier liegt die gravierende Fehleinschätzung. Im ABS-Regelbereich kommen die Räder für den Bruchteil einer Sekunde zum Blockieren oder durch die feine ABS-Regelfunktion entsteht für den Fahrer der Eindruck eines Blockierens. Das wird von ihm jedenfalls so wahrgenommen, blitzartig löst er aus Gewohnheit die Bremsen. Was man schließlich in der Fahrschule, bei einem Sicherheitstraining oder aus eigenen Erfahrungen mit seinem ABS-losen Bike gelernt und geübt hat, lässt sich so schnell nicht abstellen. Der Reflex "Bremse lösen", der im Bewusstsein fest einprogrammiert ist, muss durch den vollkommen neuen Handlungsablauf "Bremse halten" ersetzt, beziehungsweise neu programmiert werden.
Aus diesem Grund sollten vom ABS-Piloten die gleichen Bremsübungen absolviert werden. Vollbremsung nur mit dem Hinterrad aus 30 und 50 km/h, sowie Vollbremsung nur mit der Vorderradbremse aus 30, 50 und 70 km/h. Die Kür für den ABS-Experten sind danach die Vollbremsungen mit beiden Bremsen aus 50 und 70 km/h.

Wichtig hierbei ist es natürlich, dass die Bremsen auf Anschlag, im ABS-Regelbereich, bis zum Stilstand tatsächlich gehalten werden. 
Motorradfahrer mit ihren ABS-Bikes und einer zusätzlichen Integral- oder Kombi-Funktion absolvieren das Bremstraining selbstverständlich von vornherein mit beiden Bremsen.


ABS-Vollbremsung auf rutschiger Fahrbahn



Ohne ABS würde eine Vollbremsung auf diesem Untergrund spektakulär ausgehen!
Die ABS-Vollbremsung muss bei solchen Bedingungen neu erlernt werden!
(Foto: BMW)


Die tatsächliche Herausforderung für den ABS-Fahrer ist allerdings eine Vollbremsung auf schmierigem oder losem Untergrund. Zum Beispiel auf Rollsplitt. Das ist realistisch und kann jedem gleich hinter der nächsten Kurve passieren. Herausforderung deswegen, weil, um wirklich bis in den ABS-Regelbereich zu bremsen, man den inneren Schweinehund überwinden muss. Voll in die Eisen steigen und die Bremse festhalten, dazu gehört zunächst eine "gewisse Traute" und das Vertrauen, dass die Räder tatsächlich nicht blockieren.
Diese Übung sollte man steigern, vorerst genügen  40 bis 50 km/h, aus denen bis zum Stillstand voll gebremst wird. Erst nach mehreren Versuchen wird sich eine Selbstsicherheit einstellen. Diese Erfahrung ist jedoch enorm wichtig, um das Gefühl für die Notbremsung unter Extrembedingungen im ABS-Regelbereich zu erlernen.


Fazit: Vollbremsung mit ABS



Notbremsung mit ABS-Bike: "Bremse halten"
(Foto: BMW)


Wer immer schon anständig fährt, braucht kein ABS? Gebremst wird grundsätzlich vorausschauend und mit Gefühl, von der maximalen Bremsleistung ist man meilenweit entfernt.
In einer plötzlichen Notsituation sieht die Sache aber ganz anders aus. Der Schreck fährt einem voll in die Glieder, nur eine Vollbremsung kann Schlimmeres, im ungünstigsten Fall einen schweren Unfall, vermeiden. Jeder Meter zählt, man greift bis zum Anschlag voll in die Eisen, das ABS erledigt den Rest. Diesen Reflex muss man durch Bremsübungen im ABS-Regelbereich trainieren, er muss im Handlungsprogramm abgespeichert werden. Denn nur so lässt er sich in einem Schreckmoment oder in einer Paniksituation abrufen und umsetzen.


Drei stichhaltige Argumente für das ABS


Japanische-Sicherheit:
Honda VFR mit CBS-ABS-Bremssystem


Honda-Bremssysteme
Beispiel: Honda CBS-ABS
Das optimale Bremssystem für alle Fälle.
· exzellente Bremsleistung (Verzögerung) mit jedem Bremshebel!
· optimale Bremskraftverteilung bei jeder Betätigung!

· ABS-Funktion vermeidet Überbremsen!
(Zeichnung: Honda)


Erstens:
Für die Panikbremsung



Beispiel: Unausweichliche Notbremsung
(Foto: IFZ)


In einem Schreckmoment wird die Vollbremsung ohne ABS zur gewaltigen Herausforderung. Man steigt voll in die Eisen, die Räder blockieren. Wer geistesgegenwärtig reagiert, löst die Bremsen. Wer versagt, liegt auf der Nase. 
In dieser Notsituation wird das ABS zum Lebensretter!


Zweitens:
Für unverhoffte Situationen



In einer Kurve liegt Rollsplitt:
Bei leichtem Bremsen ohne ABS blockiert sofort das Vorderrad


Bremsen kann ganz harmlos sein, zum Beispiel vor Kurven, um leicht das Tempo zu reduzieren.
Nun stellen wir uns aber folgende Situation vor. Man ist auf einer fremden Strecke bei einbrechender Dunkelheit und Nieselregen unterwegs. Es kommt ein Auto entgegen, das Licht blendet etwas, die eigene Sicht verschlechtert sich, von "Fahrbahnlesen" kann keine Rede mehr sein. Die Kurve wird nur leicht angebremst, schlagartig blockiert das Vorderrad, der Sturz ist unausweichlich. Ausgerechnet an dieser Stelle war die Fahrbahn schmierig. 
Auch in so einer Situation wird das ABS zum Lebensretter!


Drittens:
Auch noch wichtig!



Auch alte Hasen steigen in einer Paniksituation voll in die Eisen


Erstens und Zweitens passiert nur Anfängern oder Bikern, die einfach nicht fahren können. Falsch! Auch alte Hasen überbremsen in einer Paniksituation das Vorderrad, im Schreck greifen sie nämlich voll zu. Selbst Weltklasse-Piloten in den MotoGPs passiert so etwas.
Und da, wo man beim Bremsen von einer schmierigen Asphaltdecke überrascht wird, hilft den Experten nur ihr Schutzengel oder ein ABS.
Ein weiteres ABS-Argument gilt den "Könnern", denn die werden immer seltener. Wer weniger als 5000 km Motorrad im Jahr fährt, hat längst nicht die Bremsübung im Gefühl wie altgediente Langstreckenfahrer.
Weitere ABS-Argumente sind aktive Sicherheit für Einsteiger und Wiedereinsteiger und für alle anderen sowieso, sowie der Wiederverkaufswert für die Maschine. Auch gewähren Versicherungen auf ABS-Bikes inzwischen Rabatte.


Text-Archiv: Praxis


Home