"TT auf dem OBI-Parkplatz"
Die Rennstrecken Hockenheim, Nürburgring, Oschersleben und
Sachsenring kennt jeder. Auch die Tourist Trophy, kurz "TT",
auf der Isle of Man, ist bekannt. Doch der Lahnring bei Marburg?
Noch nie gehört? Das soll sich bald ändern. Nach erfolgreichem
Probelauf über Ostern 2007 will man ab dem nächsten Jahr
hier regelmäßig um Pokale fahren.
Texts: Winni Scheibe
Fotos: Fromm, Scheibe
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Es gibt Momente im Leben, da
liegen Gegenwart und Vergangenheit dicht zusammen. Als ob es gestern
gewesen wäre, kommt mir mein erstes Rennen im Frühjahr 1973 in
Bremerhaven in den Sinn. Es war das berühmt-berüchtigte
Fischereihafen-Rennen. Ein abenteuerlicher Kopfsteinpflaster-Kurs mit
Bordsteinkanten, dicht vorbei an Kühlhallen und Bahnschienen. Für die
Streckensicherung dienten lediglich Strohballen. Gleich dahinter
drängelten sich die Zuschauer, viele Zuschauer, sehr viele Zuschauer.
Bei keiner anderen OMK-Veranstaltung, ob im Fahrerlager oder während
der Rennläufe, kamen sich Akteure und Schlachtenbummler so nahe.
Sozusagen Rennsport zum Anfassen. In Bremerhaven gehörte das
Fischereihafen-Rennen zur Attraktion.
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Backstage
Es ist Ostermontag, 2007, vormittags. Heute stehe ich, 32 Jahre später,
hinter den Strohballen. Aber nicht beim Fischereihafen-Rennen,
sondern
im Einkaufszentrum Wehrda bei Marburg.
Demolauf: Supersport 600
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Direkt vor meiner Nase flitzen
Motorradrennfahrer vorbei. Würde ich die Hand ausstrecken, mühelos
ließen sie sich berühren. Welche Klasse beim 1. Lahnring-Rennen gerade
an der Reihe ist, lässt sich nur raten. Auch weiß ich nicht, ob es ein
Trainingslauf, das Warm-up oder schon ein Rennen ist. Keine Ahnung. Am
Kassenhäuschen hatte man mir kurz vorher gesagt, dass sich der
Programmablauf sowieso gründlich geändert hätte, ich bräuchte aber
nur auf den Streckensprecher zu achten. Doch von dem ist nicht viel zu
verstehen, seine Ansagen gehen im Motorlärm unter. Ist auch egal. Das
Spektakel geht einem auch so unter die Haut. Die Akteure lassen nichts
anbrennen. Schräglage bis zum Abwinken, auf den kurzen Geraden wird
volle Lotte Gas gegeben, gebremst wird auf der letzten Rille.
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Mit 11.000 Touren und 220 Sachen am OBI-Markt vorbei
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Es herrscht eine einzigartige
Atmosphäre. Die Rennstrecke ist mit 1860 Meter Bauzäunen abgegrenzt
und rundum mit 4500 Strohballen gesichert. Da, wo werktags Mütter in
SB-Märkten Lebensmittel einkaufen, sich handwerklich geschickte Väter
im Praktiker Baumaterial organisieren und wo die Kids beim Mediamarkt
ihr Taschengeld in Computer-Equipment tauschen, ist in der Nacht auf
Ostersonntag für zwei Tage ein rund 1,8 km langer Straßenrennkurs
entstanden.
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... ein paar Strohballen sind übrig
geblieben ...
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Marburger Rennfans
(Foto: Wolfgang Fromm)
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Der Eintritt für beide Renntage kostete 20 Euro, nur für
den Montag 12 Euro. An nichts fehlt es. Für Hungrige stehen an allen
Ecken und Enden Würstchenbuden. Es gibt auch Pizza, Bierstände
sowieso, Kaffe, Coca und Sprudel natürlich auch. Für die Kleinen hat
man extra Kinderkarussells aufgestellt und überall parken Dixi-Klos. An
alles ist gedacht. Einige Motorradhändler präsentieren Modelle aus dem
aktuellen Angebot, die obligatorischen Verkaufsbuden mit T-Shirts,
Mützen und wer weiß was sonst noch, fehlen ebenso wenig. Es gibt
einige Tribünenplätze und nach jedem Lauf dürfen die
Schlachtenbummler quer über die Rennstrecke von einer Seite auf die
andere wechseln.
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Scooter-Team #46 von Sascha Grebing
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Team-Spenner: Moto Morini 1200 |
Lokalmatador: Dirk Kaletsch
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Lokalmatador: Reinhard Strack mit
Junior
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Lokalmatador: Frank Spenner
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Klassik-Racer: Norton Commando
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Klassik-Gespann: BMW-Kneeler
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Oldie-Racer: Ortwin Ander (72)
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Kasseler-Maico-Pilot: André Siemon
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Klassik-Racer
(Foto: Wolfgang Fromm)
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Im Fahrerlager sind die Zuschauer
ebenfalls herzlich willkommen. Sie können sich alles ansehen, Fotos
machen und den Rennfahrern Löcher in den Bauch fragen. Keiner beschwert
sich. Ganz im Gegenteil. Alle freuen sich über das rege Interesse.
Dabei gibt es, abgesehen von einigen Lokalmatadoren, überhaupt keine
Superstars zu bewundern. Anders als beim Oldtimer-GP in Schotten, von
Marburg nur einen Katzensprung entfernt, wo man hautnah berühmte
Weltmeister erleben kann. Durch gute Beziehungen oder mit viel Geld
werden GP-Legenden vom Schlag eines Klaus Enders, Dieter Braun, Phil
Read, Jim Redman oder Giacomo Agostini als Publikumsmagnete nach
Schotten geholt.
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Vorstart: "Auf die Plätze fertig
los"
Demolauf: Supersport 600
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(Foto: Wolfgang Fromm)
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Beim 1. Lahnring-Rennen von alldem
keine Spur. Frei nach dem olympischen Gedanken: wer kommt, darf mitfahren
und dabei sein ist alles. Das Starterfeld setzte sich in den jeweiligen
Klassen buntgemischt von Hobby-Racern über Lizenz-Fahrer bis zu
TT-Teilnehmern zusammen. Genannt waren Roller, Oldtimer, Sound of
Classic, Gespanne, Supermoto, Supersport 600, Superbikes und Quads. Je
nach Leistungsstärke wurden einige Klassen in einen Lauf gelegt. Rund
90 Teilnehmer hatten zwischen 100 bis 140 Euro Nenngeld für das Rennen
bezahlt. Was in Wirklichkeit dann aber gar kein Rennen werden sollte.
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Der Teufel steckt im Detail
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Veranstalter: Hinrich "Hini" Hinck
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Im Fahrerlager treffe ich Hinrich Hinck,
1. Vorsitzender des MSG Weserland e.V., Veranstalter des legendären
Fischereihafen-Rennens in Bremerhaven und seit neuestem auch Ausrichter
des Lahnring-Rennens. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit, genau genommen
seit dem Fischereihafen-Rennen 1975. Die Frage ist berechtigt: Wie kommt
man auf die Idee, in einem Ort ohne jegliche Motorsporthistorie wie
Marburg, ein Rennen zu veranstalten. Hini lacht und erzählt: „Von
1952 bis 1991 war das Fischereihafen-Rennen in Norddeutschland fester
Bestandteil im Motorsportkalender. Im Jahr 2000 haben wir dieses
traditionelle Rennen wieder ins Leben gerufen. Im Prinzip genau wie
früher, nur mit dem Unterschied, dass die Fahrbahndecke inzwischen
asphaltiert ist. Beim letzten Mal waren über 26000 Besucher da, das
Interesse nimmt von Jahr zu Jahr zu. Zum regelmäßigen Rennteilnehmer
zählt der Marburger Superbike-Pilot Reinhard Strack. Vergangenes Jahr
fragte er mich, ob man nicht mal eine ähnliche Veranstaltung auch in
Marburg machen könnte und so kam der Stein ins Rollen."
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Start: Superbike
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Was sich zunächst wie eine
Stammtischlaune anhörte, nahm schon bald konkrete Züge an. Reinhard
Strack ist nämlich bei der Stadt Marburg beschäftigt und stieß mit
seiner Idee beim Sportamtsleiter Wilfried Schmidt und auch beim
Oberbürgermeister der Stadt Marburg Egon Vaupel auf offene Ohren. Eine
geeignete Strecke war im Einkaufszentrum von Wehrda, ein Ortsteil von
Marburg, schnell gefunden. Als echte Herausforderung entpuppte sich dann
aber die organisatorische Vorbereitung und Planung. Gut 40 Anlieger im
Kaufpark mussten ihre Zustimmung geben, das Rennen musste vom DMSB
genehmigt und die Strecke abgenommen werden, und dann galt es noch
Streckenposten und eine Security-Mannschaft bereit zu stellen. Örtliche
Unternehmen mit ihren Würstchen- und Getränkeständen sowie
Motorradhändler zu gewinnen, waren dagegen die leichtesten Übungen.
Mitte März hatten man alle Tücher im Trockenen und das 1.
Lahnring-Rennen sollte über Ostern seine Prämiere feiern.
"Rückblickend lief alles fast schon zu gut. Der Schock kam dann aber
zwei Wochen vor dem Rennen. Ein Anlieger zog seine Zusage zurück, die
Strecke musste geändert werden und somit war die DMSB-Genehmigung
Schnee von Gestern. Die Stadt Marburg stand allerdings weiterhin
100-prozentig hinter dem Vorhaben und so sprang ich mit meinem Know-how
als Veranstalter ein. Aus versicherungstechnischen Gründen ließ sich
nun aber kein Rennen mehr durchführen und so haben wir kurzfristig die
Veranstaltung zum Demolauf ohne Renncharakter umgewandelt und nach ein
paar stressigen Tagen war dieser Kraftakt auch gestemmt", lässt
Hini Hinck mit einem verschmitzten Schmunzeln wissen.
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Racer-Fan: Ortwin Ander, 72, auf
Einzylinder-Königswellen Ducati 175 von 1958
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Die Oster-Racer nahmen die
Regeländerung gelassen. In Prinzip hatte sich ja auch kaum etwas am
Ablauf geändert. Der Start erfolgte in bekannter Weise, dann durften
gut 30 Minuten ordentlich Gas gegeben werden und wer als Erster über
die Ziellinie fuhr konnte sich auch als Erster und Schnellster fühlen.
Nur die gewohnte Siegerehrung mit Pokalverleihung und Sektkorkenknallen
blieb aus. Dafür bekamen alle Fahrer als Andenken eine
Erinnerungsmedaille.
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Finish: Die Gespanne fuhren am Schluss
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Auch die über 3500 Besucher kamen
voll auf ihre Kosten. Ein Großteil, so jedenfalls der Eindruck, nutzte
den frühlingshaften Ostermontag, um mit Kind und Kegel das Spektakel
als Familienausflug zu erleben. Lassen wir uns überraschen, was
nächstes Jahr in Marburg los sein wird.
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