Szenen-News
April 2009 |
Medizinische Auswertung des 100.000-Kilometer-Tests mit der Kawasaki
1400GTR
Fit für die Saison
Motorrad fahren ist Sport. Auf den
Rennstrecken sowieso, aber auch für Hobby-Biker. Über die
Freizeit-Asphaltsurfer liegen nun erstmalig umfangreiche
medizinisch-wissenschaftliche Untersuchungen vor. Erfasst und
ausgewertet wurden Stressbelastung, Blutdruckwerte, Herzfrequenz,
Herzleistungsprodukt, Energieumsatz sowie Risikosituationen im
Straßenverkehr. Probanden für diesen Langzeit-Test
waren 50 Braunschweiger Polizisten während ihrer
100.000-Kilometer-Marathonfahrt
mit der Kawasaki 1400GTR im Sommer 2007. |
Reisen und Rasten |
Hochleistungssportler muten sich
enorme Belastungen zu. Ist der Sieg in greifbarer Nähe, holen sie schier
übermenschliche Anstrengungen und Belastungen aus sich heraus. Mut,
Ehrgeiz, Kondition, Konzentration und mentale Stärke sind die
Wunderwaffen der Athleten. Als Belohnung winken Ruhm, Ehre und oft ein
üppiger Geldsegen. Von den Fans werden sie angehimmelt und wie Helden
gefeiert. Der Erfolg wird allerdings nicht dem Zufall überlassen. Ein
Stab von Trainern, Therapeuten, Ärzten und Wissenschaftlern kümmert sich
um die Akteure, längst sind alle Abläufe erforscht. In fast allen
Disziplinen, auch im Motorradrennsport. |
MotoGP ist Hochleistungssport
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Wie weit dagegen Freizeit-Motorradfahrer bei der Ausübung ihres Hobbys
belastet werden, war bisher wenig bekannt. Eine ideale Gelegenheit,
diesen Fragen medizinisch-wissenschaftlich gründlich auf den Grund zu
gehen, bot der im Sommer 2007 durchgeführte Marathon-Test von 50
Braunschweiger Autobahnpolizisten. Die Beamten und begeisterten
Motorradfahrer hatten sich vorgenommen, mit der damals brandneuen
Kawasaki 1400GTR in 100 Tagen 100.000 Kilometer abzuspulen. „Mit diesem
Test wollten wir beweisen, dass Motorrad fahren auch in der heutigen
stressigen Zeit mit dichtem Verkehr bei entsprechender Handhabung sicher
und gefahrlos möglich ist“, fasst Team-Organisator Rudi Müller zusammen.
Nicht nur dass die 50 Polizisten ihr Ziel pannen- und unfallfrei
erreicht haben, bereits nach 83 Tagen standen im Herbst 2007 100.000 km
auf dem Kawasaki 1400GTR-Tacho! Nach diesem Mammutprojekt hatte sich
eine wahre Flut von digitalen Daten und bergeweise ausgefüllter
Fragebögen aufgetürmt. Allen beteiligten Medizinern und Wissenschaftlern
war klar, dass sie Wochen, wenn nicht sogar Monate für Auswertung und
Fertigstellung ihrer Forschungsprojekte benötigen würden. Nun liegen die
Ergebnisse vor.
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100.000 Test-Kilometer für
Wissenschaft und Forschung |
Rainer Nietschke, Hartmut Marquardt,
Polizist, Björn Goltz, MHH, Dr. Thomas Rebe, MHH
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Begleitet wurde das außergewöhnliche Unternehmen von der Medizinischen
Hochschule Hannover (MHH), des Universitätsklinikums Freiburg im
Breisgau, Abteilung Rehabilitative und Präventive Sportmedizin, und vom
Institut für Zweiradsicherheit e.V. (ifz) in Essen. Forschungsleiter für
die Studie „Stressbelastungen beim Motorradfahren bei
Langstreckenfahrten“ war Dr. Thomas Rebe von der MHH Abteilung
Arbeitsmedizin. „Da wir bis dato keinerlei Erkenntnisse über die
Stressauswirkung bei Langstreckenfahrten hatten, kam uns der Dauertest
sehr gelegen. In der wissenschaftlichen Untersuchung sollte die Höhe der
Stresshormone im Urin untersucht werden. Parallel dazu dokumentierten
die Tester ihren subjektiv erlebten Stress in einem Fragebogen. Die
Ergebnisse sollen dann mit den verschiedenen Charaktertypen der Fahrer
zur Stressverarbeitung verglichen werden“, so der engagierte Mediziner
Rebe.
Für die Tagestour erhielt jeder
Tester jeweils zehn Urin-Monovetten. Die erste Probe wurde gleich vor
dem Start genommen, die weiteren für ein 24-Stunden-Urinprofil.
Zusätzliche Aufzeichnungen für das „Biomonitoring“ lieferte die
Erfassung der körperlichen Belastung aus den persönlichen
Fahrtprotokollen sowie den Positions- und Fahrdaten aus einer
„Blackbox“. Die in den Urinproben enthaltenen, chemisch nachzuweisenden
Stressindikatoren (Katecholamine, Noradrenalin, Adrenalin und Dopamin)
wurden analysiert.
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Take it easy
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Aus den gesammelten Daten ließen sich nun
wertvolle Bewertungen für die individuelle, arbeitsplatzbezogene und
psychosoziale Belastung erstellen“, betont Dr. Rebe. „Insbesondere beim
Motorrad fahren liegen bekanntlich Spaß und Entspannung sehr eng mit
Stress und stressigem Fahren zusammen. Mit dem Gasgriff kann jeder
selbst Sekunde für Sekunde zwischen Entspannung und Stress auswählen.
Bei der Analyse wurde der Stresstypus in vier Muster unterteilt:
Schonungstendenz S, Gesundheitsmuster G, Risikomuster B (Resignation)
und Risikomuster A (Selbstüberforderung). Fahrer, die dem Stresstyp A
(Selbstüberforderung) entsprachen, zeigten den höchsten Anstieg des
Stresshormons Adrenalin im Urin von der Freizeit zur Fahrzeit. Adrenalin
im Urin weist auf psychische Belastungen hin.
Noradrenalin
weist auf körperliche Belastungen hin und zeigte beim Test keine
wesentlichen Unterschiede im Anstieg zwischen der Freizeit und Fahrzeit
für die verschiedenen Stresstypen auf. Im Grunde genommen
bestimmen wir im Umgang mit dem
Gashahn selber, wie viel psychische Belastung wir uns zumuten. Zu viel
Stress und eine schlechte Stressverarbeitung können langfristig zu
psychischen Erkrankungen wie Depression und Burn-Out-Syndrom führen. Um
das zu vermeiden, sollte man bedächtig mit Stress im Allgemeinen und dem
Motorrad fahren als potenziellen
Stressor umgehen. Diesen
sorgfältigen Umgang mit Stress sollte man schon am Gashahn üben. Zu viel
und zu langer Nervenkitzel beeinträchtigen die psychische
Gesundheit.“
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Mach mal Pause |
Pause machen und dabei etwas trinken und
essen
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Das
zweite große Forschungsprojekt leitete Rainer Nietschke, Humanmedizinstudent an der
Universität Freiburg im Breisgau. Die von Team-Organisator Rudi Müller
ausgewählte Test-Crew war für die Marathontour sowie für die geplanten
Untersuchungen optimal aufgestellt. Statistisch gesehen bildeten die
Fahrer einen repräsentativen Querschnitt durch die Altersstruktur der
Motorradszene. Das Alter der motorraderfahrenen Autobahnpolizisten
reichte von 29 bis 57 Jahren, die durchschnittliche Motorradfahrleistung
lag bei jährlich rund 8000 Kilometern, wovon gut 2000 Kilometer auf der
Polizei-Maschine dienstlich absolviert wurden.
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Langstrecken-Tester Lutz Gebauer zeigt die
Messgeräte |
Bei
den Testfahrern wurde während des täglichen Einsatzes mittels eines
Langzeitblutdruck-Messgeräts und eines Langzeit-EKG-Geräts Blutdruck und
Herzfrequenz erfasst und in einer Blackbox gespeichert. Ebenfalls unter
Beobachtung stand der aktive Energieumsatz. Ziel der Untersuchungen war
es, Aufschluss über die körperliche Dauerbelastung zu geben“, verrät
Rainer Nietschke, der die Forschungsergebnisse in seine Doktorarbeit
einfließen lässt. Als weitere Parameter für die statistische Auswertung
dienten unter anderem eine Untersuchung über die körperliche Fitness und
das Körpergewicht. Die jeweilige tägliche Fahrleistung sowie die
Durchschnittsgeschwindigkeit während des Langstreckentests wurden
ebenfalls mit einbezogen.
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Ließen sich in den Messergebnissen über Blutdruck, Herzfrequenz und
Herzleistungsprodukt keine gravierenden Unregelmäßigkeiten erkennen,
zeigten sich bei den Vergleichsuntersuchungen deutliche Abweichungen
zwischen den Fahrern mit Normalgewicht zu jenen mit Übergewicht.
Letztere konnten in der Auswertung weniger Pluspunkte sammeln. Fahrer
mit besserer Fitness und größerer Fahrerfahrung schnitten im Vergleich
besser ab. Fitness, Körpergewicht und Fahrpraxis wirkten sich auch
nachhaltig auf den aktiven Energieumsatz aus. Dagegen zeigte das Alter
der Fahrer bei allen Untersuchungen keine Auswirkungen. Das zeigt, dass
ein älterer Motorradfahrer mit guter Gesundheit und entsprechender
Fitness ohne Risiko große Motorradtouren unternehmen kann. Vereinfacht
lässt sich aus der Untersuchung ableiten, dass Fahrer mit Übergewicht,
wenig Fahrerfahrung und mäßiger Fitness einem deutlich höheren
Risikofaktor ausgesetzt sind. Motorrad fahren ist eindeutig Sport.
Ähnlich wie im Skisport sollten sich auch Biker gewissenhaft auf die
Saison vorbereiten und in der Saison unbedingt weiterhin fit halten. Ein
regelmäßiges wöchentliches Fitnessprogramm von mehr als vier Stunden
fördert nicht nur die Herz-Kreislaufleistung, sondern auch das
Regenerationsverhalten bei mehrstündigen Belastungen. Auf keinen Fall
darf man bei längeren Motorradtouren ausgiebige Flüssigkeits- und
Nahrungsaufnahme zum Ausgleich des Energieumsatzes vernachlässigen“,
fasst Rainer Nietschke seine wissenschaftliche Untersuchung zusammen.
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Wachsam durch den Verkehrsdschungel |
Dauertest auch über die Autobahn |
Dritter im wissenschaftlichen Bunde war das ifz (Institut für
Zweiradsicherheit e.V.) in Essen. Forschungsleiter Matthias Haasper
nutzte den 100.000-Kilometer-Langstreckentest für die Studie
„Risikosituationen beim Motorradfahren“ und erläutert: „Wir haben das
Projekt in Form eines ausgeklügelten, vierseitigen Fragebogens
begleitet. Gleich am Schluss der Tagesetappe musste jeder Testfahrer
seine Erlebnisse schriftlich festhalten. Unsere Fragestellung bestand
darin, zu erfahren, welche Gefahrenmomente während der Fahrt im
öffentlichen Straßenverkehr erlebt werden, wie der jeweilige Fahrer
damit umgeht und diese bewältigt. 50 Prozent der Fahrer haben laut
ifz-Studie „gar keine“ beziehungsweise „keine nennenswerten kritischen
Situationen“ erlebt. Bei der anderen Hälfte bestätigte die Auswertung
der Fragebögen die bislang bestehenden Erkenntnisse hinsichtlich der
Risikosituationen beim Motorradfahren. Häufig genannt wurden
straßenbauliche Mängel, gefährliche Bitumenvergussmassen oder
Fahrbahnmarkierungen als Verursacher für Risikosituationen, gefolgt vom
Übersehen beziehungsweise falschen Einschätzen des Motorrads durch Pkw-
oder Lkw-Fahrer. Infolge vieler Autobahnkilometer handelt es sich bei
Letzterem in 60 Prozent der Fälle konkret um einen Fahrspurwechsel des
Pkw/Lkw, ohne dass dabei der Motorradfahrer beachtet wurde. Die
Polizeibeamten waren sich in ihren Beobachtungen einig, dass das
Motorrad gar nicht wahrgenommen oder dessen Geschwindigkeit beim
Annähern deutlich unterschätzt wurde. Dass dabei glücklicherweise nie
etwas passierte, ist auf die passive und umsichtige Fahrweise sowie
langjährige Erfahrung der Tester zurückzuführen. Darüber sind sich die
Polizeibeamten in Ihren Aussagen einig.“
Fazit
ifz: „Während der gesamten 100.000 Kilometer hat sich kein Unfall
ereignet, niemand wurde verletzt. Für uns auch dahingehend eine
Bestätigung, dass sich Erfahrung mit dem Motorrad sowie insbesondere das
Wissen um mögliche Gefahrenmomente und deren Bewältigung auszahlt.“
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Fazit: Biken und Rasten |
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Noch
nie gab es eine so umfangreiche und aufwendige Untersuchung über das
Motorrad fahren im Alltag, die allerdings erst durch die disziplinierte
und vorbildliche Kooperation der Braunschweiger Autobahnpolizei möglich
wurde. Alle Beteiligten können mit den Ergebnissen sehr zufrieden sein. |
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Welche Schlüsse kann man für den „normalen“ Biker daraus ziehen?
Zunächst einmal ist Motorrad fahren Sport. Und wie bei jeder anderen
Sportart ist Motorrad fahren eine sportliche Herausforderung, zu der
Fairness, Rücksichtnahme, aber auch Fitness, Reaktionsfähigkeit, gesunde
Ernährung und eine gute Portion richtiger Selbsteinschätzung und
Selbstdisziplin gehören. Nur wer vorausschauend und partnerschaftlich im
Verkehr unterwegs ist, kommt sicher ans Ziel. Nicht minder wichtig:
zwischen Start und Ziel Pausen legen, kürzere und längere. Ganz gleich,
ob man nun allein, zu zweit oder in einer Gruppe fährt, Pausen sollten
in jedem Fall eingelegt werden – um ein paar Schritte zu gehen oder für
ein paar Minuten die Beine hoch zu legen. Um etwas zu trinken, am besten
Mineralwasser oder Apfelsaftschorle. Und um etwas zu essen. Erlaubt ist,
was schmeckt, denn sowohl Kohlehydrate und Eiweiße als auch Fette können
den Energiehaushalt aufbessern. Schließlich läuft ohne Energie beim
besten Motor nichts!
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